Es war einmal vor uralten Zeiten ein böser Wassergeist. Eines Tages gelangte er in einem Flusse bis zu der Quelle. Diese lag in einem großen, finsteren Walde, mitten in der Lüneburger Heide. Sie sprudelte in armdicken Wasserstrahlen aus der Erde, so daß sich in den Jahrtausenden um sie ein Quellteich gebildet hatte. In diesem lebten goldfarbene Fische. Wenn unter dem dämmrigen Blätterdach der alten Baumriesen die Fischlein in der smaragdgrünen Flut munter hin- und herschossen, sah es aus, als brodele der Funkenregen eines Vulkans aus der geheimnisvollen Tiefe empor. Nur sehr mutige Menschen wagten sich zu dem Quellteich, um ihren Durst zu löschen. Die meisten kehrten niemals aus dieser schrecklichen Wildnis zurück.
Der böse Wassergeist beschloss, von dem Quellteich Besitz zu nehmen. Das Ungeheuer sah gar grauenerregend aus. Die Haut des schwammigen gedunsenen Körpers war schleimig grün. Auch hatte der Böse feuerrote, tückisch-blitzende Glotzaugen. Statt der Haare wuchs ein Algengespinst auf dem dickem Kopf, und als Bart an einem mächtigen Kehlsack. Das schrecklichste aber war ein breites, schwabbeliges Froschmaul mit gelben, schmutzigen Zahnstummeln. Einem solchen Untier einen Kuß geben zu müssen, hätte eine Jungfrau wohl auf der Stelle vor Abscheu töten können, da schon der bloße Anblick des garstigen Geschöpfes Grauen und Entsetzen erregte.
Der Wassergeist vergnügte sich mit dem grausigen Spiel, alle Lebewesen zu ertränken, die von dem Wasser des Teiches ihren Durst löschen wollten. Er ergriff Hasen, Rehe und Wildschweine an den Köpfen und zog die Wehrlosen in die grundlose Tiefe hinab. Auch Menschen, die sich bis zu der Quelle verirrten, entrannen nicht der Mordgier des Grausamen. Nur wenige konnten sich retten. Als sie berichteten, was ihnen am Fischteich passiert war, vermochten sie vor Entsetzen nur das Wort "Fischelquelle" zu stammeln. Daraus ist dann später im Volksmund das Wort Visselquelle geworden, als es längst keine goldfarbenen Fische mehr in dem Teich gab.
Nun wohnte auf einer Burg, wo einst etwa das Schloss Kettenburg stand, ein Fürst, der eine wunderschöne Tochter hatte. Eines Tages verirrte sich das Mägdelein im Walde. Es war schon fast verdurstet, da erblickte es den grün schimmernden Spiegel des Teiches. Hastig beugte sich die Prinzessin hinab, um zu trinken. Schon wollte der Wassergeist sein neues Opfer an sich reißen, da ergriff ihn maßloses Erstaunen. Noch nie hatte er ein so liebliches Frauenantlitz gesehen, und der Anblick des schönen Mägdeleins nahm ihn so gefangen, daß er völlig vergaß, der trinkenden Jungfrau etwas anzutun. Schon wollte die Prinzessin den schaurigen Ort verlassen, da zog der Wassergeist schnell einen unsichtbaren Bannkreis um die Quelle, den die zu Tode Erschrockene nicht zu überschreiten vermochte. Planschend und prustend tauchte der Unhold mit meckerndem Lachen auf.
"Ich schenke Dir das Leben, denn ich will Dich bei mir behalten, damit Du mir die Langeweile vertreibst", krächzte er.
"Niemals, lieber will ich ertrinken", schrie das verzweifelte Mädchen und weinte bitterlich.
"Versuch es nur", höhnte der Geist und verwandelte den Wasserspiegel in Kristall.
Als die Arme in das Wasser zu springen versuchte, schlug sie mit aller Wucht auf die erstarrte Fläche auf, so daß sie mit schmerzenden Gliedern ans Ufer zurückkriechen mußte.
"Nur wenn Du Dein Menschenherz mir gibst, kannst Du, ohne zu ertrinken, zu mir hinabsteigen", erklärte der Wassergeist dem Mädchen. "Ich kann nur im Wasser leben und müsste sterben, wenn mein Fuß jemals den Rand des Ufers berührte", fügte er traurig hinzu.
"Scher Dich weg, Du alte garstige Quabbe", schrie die Prinzessin erbost, und drehte dem Unverschämten den Rücken zu.
Als der Geist so abgewiesen worden war, packte ihn erneut der Zorn. Jedes Tier, das er töten konnte, brachte er um und weidete sich an dem Schmerz und der Trauer der Prinzessin.
"Heirate mich", schrie er wohl hundert Mal am Tage, bis er ganz heiser war. So wollte er ihren Widerstand brechen.
"Du hast so viele unschuldige Menschen und Tiere grausam ertränkt, ich verabscheue Dich!" erwiderte die Weinende und spie ihm mitten ins Gesicht. Da sann der Geist auf eine List und höhnte: "Wenn Du so viel Mitleid mit Wildschweinen, Rehen und Hasen hast, warum kaufst Du mir dann nicht ihr Leben ab?"
"Wie sollte ich denn das können, und was soll ich Dir denn geben, da ich nichts Wertvolles bei mir habe?" fragte die Prinzessin erstaunt.
"Gib mir für jedes Leben, das ich schone, ein Gramm von Deinem Herzen", schlug der Arglistige vor.
Nun trat gerade ein Rehlein aus dem Waldesdickicht an die Quelle heran, und der mordgierige Geist wollte es ergreifen, da packte die Prinzessin ein so heißes Erbarmen mit dem unschuldigen Tierchen, daß sie nicht mehr zu schweigen vermochte.
"Halt, halt", jammerte sie, "ich bin zu allem bereit". Im gleichen Augenblick verspürte sie ein Stechen in ihrer Brust. Laut schrie sie auf vor Schmerz, und das Tier floh davon.
So oft nun ein Tier an den Quellteich kam, gab die Prinzessin ein Gramm ihres Herzens für das Leben der armen, unschuldigen Geschöpfe. Schließlich war nur noch ein einziges Gramm übrig. Mit Zittern und Bangen erwartete das Mägdelein den Augenblick, wo es dem Wassergeist in den Teich folgen mußte, wenn es auch das letzte Gramm opferte. Die Prinzessin wußte sich keinen Rat mehr und weinte sehr viel, daß ihre Augen schon fast blind waren. Als sie die entzündeten Lider mit dem Quellwasser kühlte, heilten sie sofort.
Im Schloß des Vaters herrschten Trauer und Verzweiflung. Der Fürst hatte im ganzen Lande vergeblich nach seinem verschwundenen Kinde suchen lassen. Da kam ein schöner und junger Königssohn an den Fürstenhof und der Jammer der Menschen rührte sein Herz so sehr, daß er beschloss, die Prinzessin zu suchen. Kreuz und quer zog er durch die großen Wälder und die weite Heidewildnis. Schon hatte er alle Hoffnung aufgegeben, eine Spur von der Verschwundenen zu finden, da kam er, ganz traurig über seinen Misserfolg, auch zu der Visselquelle.
Die Prinzessin schlief noch in einer Schilfhütte, die sie sich erbaut hatte, und erwachte durch das Geklirr der Waffen, als sich der Jüngling hastig zur Quelle hinabbeugte.
Zitternd vor namenloser Angst um das Leben des Fremden, sprang die Jungfrau auf, um den Jüngling zu warnen. Als sie aber schon hinter ihm stand und ihn zurückreißen wollte, fiel ihr ein, daß sie damit auch das letzte Gramm ihres Herzens opferte und welches furchtbare Schicksal ihr als Gattin des Wassergeistes bevorstand. Dennoch öffnete sie ihren Mund zu einem Warnruf, da sah der Fremde das angstverzerrte Antlitz des schönen Mägdeleins in dem klaren Wasserspiegel. Erschrocken fuhr er herum und fing die durch die Aufregung ohnmächtig Gewordene in seinen Armen auf. Mit heißen Küssen auf Augen und Mund rief er sie ins Bewusstsein zurück. Dann erzählte sie ihm, was ihr von dem bösen Geist widerfahren war.
"Nun bist auch Du in seiner Gewalt, und niemand kann uns erretten", klagte sie. Der Wassergeist aber peitschte in maßloser Wut die Flut, so dass das Wasser des Teiches bis zu den Baumkronen emporspritzte. Der Königssohn war ein kluger Mensch, und er besprach sich mit der Prinzessin, wie sie den Bösen durch eine List aus dem Wasser heraus auf das feste Land locken könnten, um ihm damit seine Macht zu nehmen.
So rief der Jüngling laut, daß er die Prinzessin töten und mit ihr sterben würde, um sie nicht dem Wassergeist zu überlassen. Er zog einen langen Hirschfänger aus der Scheide, schwang ihn hoch über dem Kopfe und warf die laut "hilf mir Wassergeist" schreiende Prinzessin auf den Boden, als ob er sie erstechen wollte.
Als der Wassergeist sich so nahe vor seinem Ziel durch den drohenden Tod der Prinzessin betrogen glaubte, verließ ihn alle Vorsicht. Blindlings schnellte er aus dem Wasser empor, um den Jüngling zu vernichten. Kaum aber hatte sein Fuß den Uferrand berührt, da schrumpfte er zusammen und verwandelte sich in eine häßliche Kröte, die laut klagend in der Tiefe versank. Die beiden Liebenden aber lagen sich glücklich in den Armen und kehrten, da der Bann des Wassergeistes gebrochen war, in das Schloss zurück, wo unter großem Jubel die Hochzeit gefeiert wurde. Lange Jahre waren sie noch glücklich miteinander und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.
Der böse Wassergeist ward nie mehr gesehen. So aber in lauen Sommernächten der Vollmond über dem altersgrauen Kirchendach steht und zwei glückliche junge Menschenkinder auf einer Bank unter den Bäumen an der Visselquelle sitzen und sich herzen und küssen, dann dringt wohl aus der Tiefe oftmals ein schauriger, klagender Ton empor. Wenn das Mägdelein sich dann angstvoll erschauernd an den Geliebten schmiegt, dann flüstert er zärtlich: "Fürchte Dich nicht, es ist nur der alte Wassergeist auf dem Grunde der Visselquelle."
Nacherzählt von Hermann Deu